Kindergeschichte: Janne
Janne steht am Anfang der Allee. Am Ende der Allee sieht Janne Sand. Der Sand gehört zu einem Spielplatz. Und auf dem Spielplatz steht ein Klettergerüst. Das reicht hoch, fast bis zum Himmel. Jedenfalls gibt es gewundene Taue und Röhren, die man emporklettern kann. Ganz oben dann ein Drahtkorb. Dort kann man sich hinein setzen und, wie bei einer Seilbahn, sich bis auf die andere Seite vom Spielplatz hinüber schwingen. Wenn man dann aussteigt, ist man noch immer irgendwo oben in den Wolken und es führt eine Rutsche hinab, die so lang ist, dass einem am Ende der Popo juckt.
Janne meint Vinh zu sehen. Ihren Freund aus der ersten Klasse. „Vinh! Hallo Vinh, hier bin ich!“, ruft sie. Doch Vinh dreht sich nicht zu ihr um. „Vinh, ich bin es, Janne, kommst du mich abholen, bitte!“, versucht sie es erneut. Aber noch immer dreht sich Vinh nicht um. Im Gegenteil, er besteigt gerade den Drahtkorb und Janne kann sehen, wie er über den Spielplatz saust.
Die Bäume, die die Straße säumen, sehen böse auf Janne herab. Janne weiß, sie hat sie gestört. Die Bäume mögen den Wind, der ihnen die Blätter krault. Sie mögen auch den Regen, der sie duscht. Und sie mögen die Sonne, die sie wieder trocknet. Was sie aber gar nicht mögen sind Vögel. Nach Vögeln schlagen sie mit ihren Ästen und Blättern. Und sie mögen keinen Lärm.
Morgens wird Janne von Mama und Mami zur Schule gebracht. Sie fahren dazu mit dem Auto durch die Allee. Meistens fährt Mama. Weil Mami in der Früh verträumt ist. Meistens vergisst Mami auch etwas zu Hause. Dann müssen sie umkehren und daher sind sie fast immer spät dran. Mama rollt für gewöhnlich einmal mit den Augen und fährt dann super schnell. Sie haben ein rotes Auto. Sie nennen es auch Roter Blitz. Aber nur morgens. Die Bäume haben also keine Chance. Mama flitzt so rasant an ihnen vorbei, dass sie nichts gegen die Störung ausrichten können. Sie schauen mit zusammen gezogenen Brauen dem Roten Blitz hinterher. Ihr Schimpfen erstickt hierbei im Fahrtwind.
Janne setzt vorsichtig einen Fuß auf die Allee. Und dann noch einen. Und noch einen. In der Reihe links beugt sich eine Buche vor. Sie ist mager. Sie schaut irritiert. Janne bleibt stocksteif stehen. Sie kneift die Augen zu. Als sie ihre Augen wieder öffnet, befindet sich die Buche wieder in Reih und Glied.
Erneut wagt es Janne einen Schritt nach vorne zu setzen. Dabei quietscht ihr Turnschuh. So still ist es heute. Sie beißt die Zähne aufeinander um nicht „oh nein“ zu flüstern. Dann bückt sie sich und zieht ihre Schuhe aus. Auf Socken schleicht sie voran. Sie schafft es vielleicht vier oder fünf Meter, da schnellt plötzlich ein Ast herab. Wie eine Schranke verharrt er vor Janne. Erschrocken rennt sie zurück.
Am Anfang der Allee angekommen, stemmt sie schwer atmend ihre Hände in die Seiten. Sämtliche Bäume der Allee blicken sie nun an. Sie schimpfen und zetern. Janne presst die Hände auf die Ohren. Sie beginnt zu summen: „Alle Männer die Kaperfahrt fahren…“. Je länger sie Töne von sich gibt, umso friedlicher werden die Bäume. Ihre Gesichter entspannen sich. Eine junge Birke beginnt zu winken.
Doch als Janne genauer hinsieht, bemerkt sie, dass es kein Winken ist. Die Birke tanzt. Sie wedelt mit den Blättern im Takt, dass sie nur so fliegen. Janne beginnt zu singen. Immer lauter und lauter und anstatt dass sich die Bäume beschweren, fangen sie an zu lachen. Sie haken ihre Zweige ineinander und wiegen sich. Dabei gibt es heute gar keinen Wind.
Alles was Janne einfällt, gibt sie nun zu ihrem Besten. Sie klatscht dazu in die Hände und dreht sich im Kreis. Dabei bewegt sie sich vorwärts. Ihr Herz schlägt schnell. Und immer schneller. Aber weit ist es nicht mehr, dann hat sie den Spielplatz erreicht. Hinter ihr ein Blätterrauschen. So erreicht sie schließlich den Sand. Sie schmeißt die Schuhe neben die Schaukel und klettert hoch zu Vinh.
Erst als Vinh von seinem Vater abgeholt wird, fällt Janne wieder ein, dass sie die Allee erneut beschreiten muss. Sie will zurück nach Hause, zu Mama und Mami, sofort. Vermutlich warten sie schon auf sie. Doch was werden die Bäume machen, wenn sie sie erneut sehen?
Allmählich setzt die Dämmerung ein. Janne steht wieder an der Allee. Diesmal auf der anderen Seite. Noch hat keiner der Bäume sie entdeckt. Die Schuhe trägt sie in der Hand, leise schleicht sie sich voran. Da beugt sich eine knorrige Platane aus der Reihe. Augenblicklich springt Janne zurück. Die junge Birke bemerkt das. Sie zwinkert Janne zu.
Janne zieht sich ihre Schuhe an. Sie weiß, sie hat keine andere Chance. Sie klatscht abermals kräftig in die Hände und beginnt, so laut sie kann, zu singen: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, Motorrad…!“, dazu lacht sie und tanzt und rennt und ist schneller als der Wind am anderen Ende der Allee angekommen. Hinter ihr gibt es einen brausenden Sturm. Blätter kreiseln, Äste wirbeln durch die Luft. Die Bäume biegen sich, als könnten sie mit ihren Wurzeln Walzer tanzen.