Wenn Menschen dauerhaft und verlässlich Verantwortung füreinander übernehmen ist das Familie.

Frau Professor Christine Wimbauer forscht in ihrem Fachbereich Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin u.a. zu Paarbeziehungen, Arbeit, Liebe, Familien- und Sozialpolitik und auch zu Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. In ihrem Buch „Co-Parenting und die Zukunft der Liebe“ geht es über post-romantische Elternschaft. Familyship hatte nun die Möglichkeit mit ihr über den Stand von Liebe und Familie zu sprechen und auch einen Blick in die Zukunft zu werfen.

Foto: Copyright Prof. Wimbauer (privat)

Frau Prof. Wimbauer, Sie schreiben in Ihrem Buch „Co-Parenting und die Zukunft der Liebe“ über post-romantische Elternschaft. Daher erlauben Sie mir eingangs die Frage, nach dem Ist-Zustand der Liebe

Die Idee der romantischen Liebe ist mit einem ganz großen Glücksversprechen aufgeladen. Gesellschaftlich, etwa in Institutionen, Medien, im Diskurs wird vermittelt: Für ein glückliches Leben muss man ein Liebespaar sein, einen Partner, eine Partnerin haben. Viele Menschen haben das verinnerlicht. Sind sie Single, wünschen sich sehnlichst eine Liebesbeziehung. Haben sie eine, aber keine rundum glückliche, zweifeln sie an sich oder der geliebten Person. Romantische Liebe ist aber oft flüchtig, und all die Versprechen der Liebe und die Ansprüche aneinander einzulösen, ist ein wenig wie die Quadratur des Kreises. Gut zuhören, sexy und geistreich sein, das Auto reparieren und das Abendessen auf den Tisch zaubern, ein toller Familienmensch sein und gemeinsam Pferde stehlen: das ist ziemlich viel, was der/die andere leisten soll. Klappt das nicht alles, denken viele, sie sind nicht gut genug, haben ein Defizit – oft Frauen, weil durch die Vergeschlechtlichung von Sorge von ihnen besonders viel und Widersprüchliches erwartet wird. Aber es ist kein individuelles Versagen, sondern es ist strukturell sehr voraussetzungsvoll, dauerhaft eine glückliche Liebesbeziehung zu führen.

Und gleich hinterher die Frage nach der Definition von Familie. 

Was als „Familie“ gilt, kann je nach Gesellschaft und Zeit unterschiedlich sein. In Deutschland und dem globalen Norden ist die Vorstellung der geschlechterungleichen bürgerlichen Kleinfamilie der 1960er Jahre noch verbreitet: Vater (erwerbstätig), Mutter (unbezahlt für Haus und Kinder zuständig), am besten verheiratet, und ihre leiblichen Kinder.
Die gelebte Realität ist aber längst viel bunter. Denken Sie zum Beispiel an Alleinerziehende, an Patchwork-Familien mit mehreren sozialen und leiblichen Eltern, an gleichgeschlechtliche Familien mit zwei Müttern oder Vätern, an freundschaftszentrierte Lebensformen, Wahlverwandtschaften, Ko-Elternschaft zu zweit oder zu dritt oder mehreren.
Familien sind vielfältig, das waren sie übrigens auch schon früher. Familie ist auch nichts, was man „hat“, sondern etwas was man tut. Von Familie lässt sich immer dann sprechen, wenn Menschen dauerhaft und verlässlich Verantwortung füreinander übernehmen. Egal, welches Geschlecht oder welche sexuelle Orientierung sie haben, ob sie sich romantisch lieben oder nicht und ob es zwei oder mehr sind.

Passen Elternschaft und Liebe dann überhaupt zusammen?

Das ist auf jeden Fall möglich: Zwei Erwachsene können sich romantisch lieben, und gleichzeitig ihre Kinder lieben und sich gut um sie kümmern. Aber es ist nicht beides gleichzeitig notwendig. Die Logiken widersprechen sich sogar: Nach dem Konzept der romantischen Liebe sollen die zwei Liebenden exklusiv füreinander jeweils die ganze Welt, das Ein und Alles sein, während sie nach dem Konzept der Elternliebe und der sogenannten Mutterliebe gleichzeitig ihre Kinder über alles lieben sollen – das kann kollidieren.
Und natürlich können Eltern einzeln oder gemeinsam ihre Kinder lieben und sehr gut für sie sorgen, auch wenn sie sich nicht (mehr) romantisch lieben. Eine womöglich eher pragmatische, kindorientierte Elternbeziehung kann sicher Vorteile bieten im Vergleich etwa zu einer konfliktreichen Eltern-Paarbeziehung.

Was passiert mit der Liebe, wenn Elternschaft unabhängig davon gelebt wird?

Es richten sich dann nicht mehr alle Hoffnungen und Erwartungen an die romantisch geliebte andere Person, sondern sie verteilen sich vielleicht realistischer auf verschiedene Personen. Zwischen den Eltern fallen dann auch mögliche Enttäuschungen und Verletzungen durch die (nicht mehr) geliebte andere Person und Paarkonflikte weg. Elternschaft kann dann auch leichter kindorientiert gelebt werden als zum Beispiel in einer Paarbeziehung mit viel Streitpotential. Kurz, es besteht Raum für einen sogenannten „Liebesrealismus“ und für pragmatische Elternbeziehungen. Und Liebe gibt es weiterhin – aber eben nicht unbedingt in Form romantischer und exklusiver Zweierliebe, sondern eben als Elternliebe, die auch mehrere Kinder umschließt, oder als starkes Gefühl für Freund:innen oder auch als umfassende Liebe zur ganzen Welt und Umwelt.

Was denken Sie, welche Familienform ist in unserer Gesellschaft aktuell am nachhaltigsten?

Ich möchte keine Familienform an sich besser oder schlechter stellen, keinem Menschen soll (s)eine gewünschte Lebensform vorgeschrieben werden. Dennoch ist das Familienernährermodell mit einem männlichen Allein- oder Hauptverdiener und einer für Hausarbeit und Kindererziehung zuständigen (Ehe-)Frau voller Ungleichheiten, fragil und auf Dauer oft für eine oder beide Beteiligte nachteilig. Nach einer Trennung haben Frauen oft ökonomisch große Einbußen, berufliches Nachsehen und wenig Rentenansprüche. Aber auch ohne Trennung kann eine strikte Arbeitsteilung gefährlich werden, etwa bei einer schweren Erkrankung oder im Unglücksfall. Wer soll dann für die Kinder sorgen, wer die ökonomische Existenz sichern, wenn die/der bisher Zuständige es nicht mehr kann? Wenn alle Beteiligten Sorgearbeit leisten und Geld verdienen (können), ist die Zufriedenheit oft größer. Prekäre Situationen wie Arbeitslosigkeit oder Erkrankung können gemeinsam aufgefangen werden. Auch die Kinder haben mehr Ansprechpersonen, mehr Vorbilder und können mehr Zeit und Aufmerksamkeit bekommen.

Welche strukturellen Hindernisse existieren, die eine individuelle Elternschaft erschweren?

Was genau meinen Sie mit individueller Elternschaft? Strukturelle Hürden gibt es eine ganze Menge, ich nenne nur zwei: Erstens stößt Elternschaft jenseits der zweigeschlechtlichen Zwei-Eltern-Familie auf rechtliche Grenzen und Hürden, da rechtlich nur zwei Eltern vorgesehen sind. Bei einer Ko-Elternschaft etwa mit einem Vater und einem lesbischen Paar, also zwei Müttern (einer biologischen und einer sozialen Mutter), muss eine der drei Personen ohne Elternrechte bleiben. Das kann vor allem im Todesfall, aber auch schon bei einem Krankenhausaufenthalt, sehr negative Folgen für die Kinder und Familien haben. Auch im Alltag ist es mühsam und unsicher. Immerhin sind hier bald rechtliche Verbesserungen für Mehr-Eltern-Familien oder Familien mit zwei Müttern vorgesehen. Zweitens sind innerhalb von Familien, egal ob mit zwei oder mehr Eltern, oft Ungleichheiten zuungunsten von Frauen zu finden, weil sie – auch aufgrund gesellschaftlicher Strukturen, Normen und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – immer noch mehr Sorge und Hausarbeit leisten und einen höheren „mental load“ haben.

Wenn Sie einen Blick in die Glaskugel werfen könnten, wohin werden sich Elternschaft und Liebe in den kommenden zehn Jahren weiterentwickeln?

Bei Elternschaft sind Prognosen einfacher. Familie wird weiterhin und noch mehr in vielfältigen Formen gelebt. Auch rechtlich werden höchstwahrscheinlich bald Mehreltern-Familien und gleichgeschlechtliche Zwei-Mütter- oder Zwei-Väterfamilien besser anerkannt. Bei Liebe ist die Entwicklung nicht ganz so einfach … ich vermute, die romantische Liebe steht auch weiterhin hoch im Kurs. Daneben könnten aber auch andere Formen der Liebe, der Zuneigung und der Verantwortungsübernahme füreinander gesellschaftlich mehr Sichtbarkeit und Legitimität erhalten – sei es in Wahlverwandtschaften, engen Freundschaften, in Konstellationen mit mehr als zwei Menschen. Gerade auch die Corona-Pandemie zeigt ja auch, dass Verantwortungsübernahme füreinander auch jenseits der Ehe gesellschaftlich notwendig ist.

Gibt es etwas, das Sie abschließend ergänzen wollen?

Entscheidend ist nicht so sehr die Form von Familie, sondern die Qualität der Beziehung. Gibt es Zuverlässigkeit, Dauerhaftigkeit, Verantwortungsübernahme? Dann sollten diese Familienbeziehungen auch entsprechend rechtlich abgesichert und gesellschaftlich anerkannt werden. Ob das nur zwei, drei oder vier Eltern sind und ob sie sich lieben oder nicht. Mit Blick auf das Recht dürfen wir auf die angekündigten Reformen gespannt sein.

 

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