Kindergeschichte: Amanda
Das Licht ist schon eingeschaltet. Amanda sieht das, auch ohne die Augen richtig aufzumachen. Mama hat geduscht und in der Küche geht die Kühlschranktür auf und zu. „Auf zur Kita, hoch mit dir“, ruft Mama aus der Ferne. Aber Amanda kann sich gar nicht bewegen. Ihre Arme und Beine sind heute so schwer, als gehörten sie gar nicht zu ihr. „Los Amanda, ich muss zur Arbeit, steh auf!“, sagt Mama und kniet jetzt am Bett.
„Nein. Bett. Nein. Nein. Nein!“, sagt Amanda. Mama streicht ihr über den Kopf. Aber Amanda dreht sich um und zieht die Beine hoch, fast bis ans Kinn.
Da steht auf einmal ein Mann mit einem langen Bart vor ihr. Er hat buschige Augenbrauen und einen roten Mantel. „Guten Tag, Amanda!“, sagt er. Amanda schaut ihn erstaunt an und erkennt einen schweren Sack auf seinem Rücken. „Wo ist Knecht Ruprecht?“, fragt sie.
„Amanda, Papa ist in Paris, bitte steh auf, ich komme zu spät zur Arbeit!“
Da sagt der Mann: „Möchtest du wissen, was ich alles mitgebracht habe?“ Amanda zögert. „Etwa nicht?“ „Doch, doch“, entgegnet Amanda.
Eine kalte Hand fasst an Amandas Bein und eine Strumpfhose wird über ihren linken Fuß gezogen. „Amanda, nun hilf mir mal, so geht das doch nicht“, sagt Mama und schimpft etwas. Aber Amanda kann nicht helfen. Ihr Bein ist genauso schwer wie vorhin und der Mann hat diesen großen schweren Sack und Knecht Ruprecht ist nicht da. Amanda ist verwirrt. Sie muss wissen, was in dem Sack ist. Geschenke vermutet sie. Ein ganzer Sack voller Geschenke!
„Amaaaaanda!“, sagt Mama, jetzt ziemlich bestimmt, „du musst mitmachen, wir kommen zu spät!“
„Sag mal Amanda, hast du noch immer keine Ahnung, wer ich sein könnte?“ „Du bist doch der Weihnachtsmann!“ „Richtig, ich bin der Weihnachtsmann. Und ich bin gekommen, weil du Geschenke so gern hast und es heute noch besonders früh ist. Zur Aufmunterung sozusagen.“ „Woher weißt du, dass ich Amanda bin?“ „Der Weihnachtsmann, der weiß doch alles!“
Amanda ist nun angezogen. Mama zieht sie hoch, so dass sie sitzt. Aber Amanda fühlt sich heute wie ein Pudding mit Soße und kippt zurück ins Kopfkissen. „Du hast ja Fieber“, sagt Mama. Amanda möchte etwas sagen, aber da fällt ihr direkt der Weihnachtsmann ins Wort: „Kann es sein, dass du dir ein Haustier wünschst? Eines zum Anfassen und Streicheln und Kuscheln? Um das du dich ganz alleine kümmern kannst?“ „Ja“, sagt Amanda. „Das wäre mein allergrößter Lieblingswunsch! Ein Hase oder ein Hund oder nein, eine Katze.“
Mama steckt ein Thermometer in Amandas Ohr. „Nein“, will sie rufen, aber auch ihre Stimme ist mittlerweile so schwer, als gehörte auch sie nicht mehr zu ihr. Sie liegt wieder unter der Decke. Geräusche kommen aus der Küche. Der Wasserhahn läuft. Dann telefoniert Mama. Als sie zurück kommt, stellt sie einen Teller mit Apfelstückchen und Gurke und Paprika ans Bett und ein Glas mit Orangensaft. Darin steckt ein Strohhalm. Rosa. Amandas Lieblingsfarbe. „Ich glaube, wir kuscheln uns hier heute beide zusammen ein bisschen ein.“, sagt Mama.
„Ein Haustier ist eine große Aufgabe. Ein Haustier braucht dich Tag und Nacht. Das darf man nie vergessen. Es hat Hunger und Durst, genauso wie du. Es muss auch pupsen und schlafen und will, dass du es lieb hast.“, sagt der Weihnachtsmann und tritt näher an sie heran, schaut Amanda dabei tief in die Augen. Amanda will zurück weichen und geht auch einen Schritt nach hinten. Da fällt sie augenblicklich durch die Wand ihres Kinderzimmers. Ihr ist schwindelig. Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich in einem Park. Hasen springen in Bäumen, eine Schar Dalmatiner hüpft rückwärts, eine Katze macht einen Salto und drei Neonfische sonnen sich in den Blättern einer Rosenblüte. „Weihnachtsmann!“, ruft sie. Aber nichts passiert. Noch einmal: „Weihnachtsmann, wo bist du nur?“, aber vom Weihnachtsmann ist weit und breit nichts zu sehen. Wolken wispern ein Kinderlied. Ansonsten ist es still.
Amanda sieht sich um. Die Tiere sind lustig. Sie murmeln nun etwas. Es kommt aus allen Richtungen und macht ein ziemliches Kauderwelsch in ihrem Kopf. Amanda will sie begrüßen, aber offenbar sprechen die Tiere kein Deutsch. Auch kein Italienisch. Und Englisch kann Amanda nicht. Sie hat nun alles versucht. Eine letzte Chance birgt ihre eigene Sprache. Amandarisch hat sie sie genannt. Und es ist kaum zu glauben. Einer der Dalmatiner wedelt mit dem Schwanz und hüpft dabei rückwärts auf sie zu. Er sagt so etwas wie „Willkommen im Haustierschlaraffenland“. Ganz genau kann Amanda das nicht verstehen. Der Dalmatiner nuschelt etwas. Amanda bemüht sich hingegen deutlich zu sprechen. Sie möchte unbedingt wissen, ob eines dieser Haustiere nicht Lust hätte mit in ihr Kinderzimmer nach Berlin zu kommen. Der Dalmatiner sagt: „Aber nein, wir sind doch glücklich hier!“, und hüpft ebenso schnell rückwärts zu Seinesgleichen zurück und gemeinsam verschwinden sie in einen Wald.
Dann eben ein anderes Haustier, denkt Amanda. Irgendwer hier wird schon mit mir kommen. Bei mir ist es warm und gemütlich und ich kann mich richtig gut kümmern. Nun aber sind alle Tiere verschwunden und Amanda beginnt sie zu suchen. Plötzlich steht Amanda an einem Strand. Vor ihr ein Meer. Es ist friedlich und weit. Der Weihnachtsmann winkt aus einer Wolke und lässt Geschenke regnen. Doch anstatt dass sie eines zu fassen bekommt, plumpsen sie mit einem lauten Platschen ins Wasser. Amanda kann noch nicht schwimmen und ein Boot sieht sie nicht. Zu allem Unglück treiben die Wellen die bunten Pakete nicht zu ihr, sondern hinaus aufs Meer.
„Amanda, mach doch bitte den Mund auf“, sagt Mama, während sie ihr über die Wange streicht. Amanda sieht sie an. Mama ist wie hinter einer grauen, aber etwas durchsichtigen Gardine. Amanda schafft es nun den Mund aufzumachen und eine klebrig süße Flüssigkeit, die nach Erdbeere schmeckt, läuft ihr in den Mund. „Schluck das runter, Amanda, dann geht es dir bald besser“, hört sie. Und Amanda schluckt.
Ein Paket scheint sich nun doch zu ihr auf den Weg zu machen. Es ist grün, quadratisch und es ist umwickelt mit einer glänzend rosafarbenen Schleife. Es ist auch gar nicht aufgeweicht. Es trotzt dem Meer, schwimmt entgegen der Wellen. Es muss alleinig für sie bestimmt sein. Der Weihnachtsmann zwinkert ihr zu und seine Wolke löst sich schließlich mit ihm auf. Zurück bleibt ein strahlend blauer Himmel.
„Lass einmal deine Stirn fühlen“, sagt Mama. „Ach, ich glaube dir geht es langsam besser, kann das sein?“ Amanda öffnet die Augen und die graue Gardine ist weg. Mama sitzt vor ihr. Sie reicht ihr den Orangensaft. Und Amanda trinkt. Das tut gut. Amanda kann sich auch wieder bewegen, ihre Arme und Beine gehören wieder zu ihr. Als sie über Mamas Schulter hinweg blickt, sieht sie auf der roten Kommode etwas liegen. Es ist ein grünes Paket, quadratisch und es ist umwickelt mit einer glänzend rosafarbenen Schleife. „Wer hat das mitgebracht?, fragt Amanda. „Ich weiß nicht“, sagt Mama. „Da stand ein Paketbote vor der Tür. Einen Absender hat es nicht. Auf dem Adressschild steht dein Name. Wer weiß, vielleicht ist es von Oma und Opa. Willst du es auspacken?“ Amanda nickt. Sie zerreißt das Papier und hält ein Stofftier in der Hand. Es ist ein Dalmatiner.