Kindergeschichte: Max
Papa und Max wohnen zusammen in einer kleinen Wohnung. Max Zimmer ist dabei so winzig, dass er quasi gleichzeitig schlafen, mit seinen Rittern spielen und sich im Bad die Zähne putzen kann. Deshalb erlaubt Papa nur selten, dass Max einen Freund mitbringt und deshalb muss Max nach dem Spielen immer sofort wieder aufräumen. „Sonst kommen wir irgendwann nicht mehr rein in unsere Wohnung oder schlimmer noch, gar nicht mehr heraus!“, sagt Papa.
Einmal war Papa nach der Arbeit furchtbar müde, dass er am Nachmittag einfach so auf dem Sofa eingeschlafen war. Max hatte daraufhin mit seinen Rittern gespielt. Zuerst mit der Burg aus Bauklötzen, dann dazu noch mit den Figuren aus seinem Spieleregal, danach mit selbstgebauten Schwertern und ganz zum Schluss hatte Max sich auch selbst verkleidet. Er hatte zuvor aus seinem Kleiderschrank alle Pullover und Hosen und Socken und Jacken und Unterhemden herausholen müssen, bis er an sein Faschingskostüm gelangte.
Als Papa aufwachte, sah Max sich um und ihm wurde mulmig. Aber Papa war gar nicht wütend. Es war lediglich das erste Mal, dass Papa lange Arme wuchsen. Die waren so lang, dass sie aus den Hemdsärmeln herausragten und vom Sofa bis unter Max Bett reichten. So musste Papa noch nicht einmal aufstehen, um all die Unordnung zu beseitigen. Als Papa fertig war, sah er ganz fröhlich aus und Max und Papa gingen nach draußen ein Eis essen.
Seit diesem Nachmittag wachsen Papa immer mal wieder längere Arme. Insbesondere, seitdem Max zwei neue Freunde hat. Sie heißen Anger und Wanger. Anger lebt in der linken Hand von Max und Wanger in der rechten. Wenn Max badet, sind sie anschließend kaum noch zu sehen. Max hasst es deshalb zu baden. Sie sind dann nur noch in den Ritzen zwischen den Fingern zu finden.
Scheint aber die Sonne und ist Max lange unterwegs, so wachsen Anger und Wanger, bis sie sich sogar teilen. Wenn sie nicht mehr in Max Hände passen, dann hüpfen sie von ihnen herab. Max kann sie auch irgendwo hin kleben. Denn Anger und Wanger haben so etwas wie Saugnäpfe unter ihrem Körper. An manchen Tagen kommt es daher vor, dass der ganze Spielplatz und die ganze Wohnung voll von Angers und Wangers ist. Es gibt sie in grün und braun und gelb und hellorange. Je nachdem was sie gegessen haben.
Papa mag Max neue Freunde nicht besonders. Das liegt daran, dass Max sie füttern muss. Am liebsten mit Schokoladenkuchen und Eiscreme. Max zerreibt hierzu die Speisen zwischen seinen Fingern. Weil Anger und Wanger an guten Tagen überall sind, muss Max sie auch überall füttern.
Es gab einen Tag, da war Max lange im Kindergarten. Niemand hatte ihm gesagt, dass er seine Hände waschen müsste. Es hatte ein Fest stattgefunden. Da brachte Max schon besonders viele Angers und Wangers mit nach Hause. Allesamt waren sie sehr hungrig. Diese Angers und Wangers waren ausnahmsweise rot, denn es hatte im Kindergarten Erdbeeren gegeben. Die roten Angers und Wangers waren besonders gefrässig und sie vermehrten sich schneller als die anderen, die Max gewohnt war.
Max versuchte die Angers und Wangers mit Zitronenkeksen umzufärben, damit sie friedlicher würden. Aber es funktionierte nicht. Sie blieben rot. Dann nahm er Kiwi-Marmelade und kleckerte sie in Form einer Straße bis zur Wohnungstür. Auch dies misslang. Als Letztes fiel ihm die Schokoladencreme ein, die er sonst morgens auf sein Brötchen schmierte. Er strich sie entlang des Fensterbrettes. Das klappte zumindest ein bisschen, einige der roten Angers und Wangers stürzten hinab in den Hinterhof. Die meisten aber rieben sich genüsslich ihre Bäuche und griffen gierig in Max Richtung, der noch immer das Schokoladencremeglas in der Hand hielt. Es gab sie plötzlich hundermillionentausendfach.
Max rannte ins Wohnzimmer. Er schrie und zitterte und sprang auf Papas Schoß. Papa hörte gerade Musik und las eine Zeitung. Er hatte von all dem bisher nichts mitbekommen. Zuerst nahm er Max in den Arm und streichelte ihm über den Kopf. Max erzählte ihm von seinen neuen Freunden, die heute plötzlich immer mehr und immer gefräßiger wurden und die einfach nicht mehr verschwanden an diesem Tag, obwohl er sie gut fütterte und immer freundlich zu ihnen war. Dann hatte Papa eine Idee: „Wir fragen deinen Nachbarn Noah, ob er nicht Lust hat morgen mit dir zu spielen. Wenn dann die roten Angers und Wangers zurück kommen sollten, dann könntet ihr sie gemeinsam bezähmen! Was sagst du?“ Max war einverstanden.
Als Papa dann aufstand und das Chaos sah, machte er einmal „Puh!“ und Max hatte gesehen, dass Papa versucht hatte heimlich hinter seinem Rücken mit den Augen zu rollen. Aber dann wuchsen Papa plötzlich wieder lange Arme. Und nicht nur das. Diesmal wuchsen ihm sogar noch ein paar Arme dazu. Die kamen aus seinem Bauch, aus seinem Rücken und aus seinem Kopf. Die waren kurz oder lang oder mittellang und hatten Hände. Papa konnte nun problemlos vom Sofa aus alle Ecken der Wohnung erreichen.
Papa trug dazu Gummihandschuhe. In einer Hand hielt er ein feuchtes Wischtuch, in einer anderen einen Wassereimer, in einer weiteren eine Sprühflasche und in noch einer anderen ein trockenes Tuch. Ein Arm hatte sich einen Besen geschnappt und ein anderer ein Kehrblech. Damit wurden alle roten Angers und Wangers zusammengefegt und anschließend in eine Mülltüte gesperrt. Die übrigen Hände klopften und rieben an Max und eine Hand fuhr ihm mit einem nassen Waschlappen durch das Gesicht. „Bähhh!“, rief Max.
Als die Wohnung wieder sauber war, klingelten Papa und Max an Noahs Wohnungstür. Max hatte Glück, Noah war da. Am nächsten Nachmittag durfte er mitkommen zu Max. Dann gingen Papa und Max noch in einen Spielwarenladen und sie kauften für Max eine Zauberdecke. Sollten jemals die roten Angers und Wangers wieder auftauchen, dann könnte er diese Zauberdecke über sie werfen. Denn die Decke vermochte es, Angers und Wangers unsichtbar zu machen. Zu Hause faltete Max die Decke sorgfältig und legte sie unter sein Bett. Bevor er aber schlafen ging an diesem Abend, genoss er ein ausgiebiges Bad und schrubbte kräftig die Ritzen zwischen seinen Fingern. Seither gibt es nur noch grüne, braune, gelbe und hellorangefarbene Angers und Wangers. Und sie sind immer freundlich.