Von der Heiligen Familie zur Patchwork-Realität: welche Werte prägen Familie?

Prof. Dr. Angelika Walser arbeitet als katholische Moraltheologin und Universitätsprofessorin an der Universität Salzburg. Zusammen mit Frau Bernadette Breunig hat sie ein wissenschaftliches Brennglas auf die Co-Elternschaft gelegt: Sie führte eine qualitative Studie durch.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit dem Thema Familie und wie diese dem Wandel unterlegen ist. Was sind Werte, die Familie ausmachen?
In allen Formen von Familien wurden und werden nach wie vor Werte wie Verlässlichkeit, Stabilität, Fürsorge, Treue und Achtsamkeit gelebt. Man müsste eigentlich in einer Familie genauer die Beziehung zwischen den Eltern von der Beziehung zwischen Eltern und Kinder unterscheiden. Hier sind unterschiedliche Werte wichtig. Selbstverständlich verändern sich Werte im Wandel der Geschichte und sind stets auch kulturabhängig: Bis vor nicht allzu langer Zeit – genauer bis zur Zeit der Romantik und Aufklärung – war beispielsweise in Europa Geschlechtergerechtigkeit als Kriterium für partnerschaftliche Beziehungen kein Thema (um nur ein besonders wichtiges Beispiel für die Beziehung zwischen Erwachsenen zu nennen). In der Beziehung zwischen Eltern und Kindern hat sich beispielsweise das Bewusstsein für die Achtung der Autonomie von Kindern ebenfalls erst langsam entwickelt, was sich dann endgültig auch rechtlich in der Formulierung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (1989) niedergeschlagen hat. Werte sind also gerade in Bezug auf Familie ständig im geschichtlichen und kulturellen Wandel. Sie verweisen allesamt darauf, dass es von Menschen nach wie vor als sinnstiftend erlebt wird, in Familien zusammenzuleben und dort gemeinsam gute Beziehungen zu gestalten.
Wo steht Familie im historischen Kontext heute?
Hartmut Rosa spricht in seiner Resonanztheorie, die theologisch-ethisch breit rezipiert wird, von der Familie als einem letzten großen „Resonanzhafen“. Hier erhofft man sich im „Haifischbecken der Menschheit“ Rückhalt, Geborgenheit und Sinnstiftung zu finden. Die Erwartungen an Familie sind also so hoch wie nie zuvor.
Welchen Einfluss haben kirchliche und säkulare Weltanschauungen auf das Wertegefüge von familiären Strukturen zur Zeit?
Kirchliche Einflüsse werden in einer säkularen Gesellschaft zunehmend schwächer, stattdessen dominieren die Gesetze und die Werte der Arbeitswelt. In unserer Forschung haben wir immer wieder von der „Arbeit am Projekt Kind“ gehört und von der „Lebensplanung, die durch ein Kind optimiert werden sollte.“ Soziologinnen wie beispielsweise Elisabeth Beck-Gernsheim sprechen zunehmend vom Kind als einer Art emotionalen Ressource für Erwachsene. Man erhofft sich hier offensichtlich eine lebenslange Bindung, die man aufgrund schlechter Erfahrungen in der Beziehung zu einem Erwachsenen erst gar nicht mehr erwartet. Auch wenn ich diese Sehnsucht nach Bindung grundsätzlich verstehe, ist mir hier manchmal als theologische Ethikerin angesichts solcher Aussagen ein wenig bang: Ein Kind ist in erster Linie ein großes und manchmal irrsinnig herausforderndes Geschenk – kein Sozialkapital, das ich mir erarbeite und in das ich investiere, damit ich im Alter dann einmal nicht einsam bin. In meinen Augen verschiebt sich hier der Fokus von der Elternbeziehung allein auf die Eltern-Kind-Beziehung und kann unter Umständen aufgrund riesiger Erwartungen dem Kind die Luft zum Atmen nehmen. Außerdem steht hier immer die Gefahr der Instrumentalisierung von Kindern im Raum.
Momentan gibt es in Europa einige Regierungen, die konservativ und rechtsgerichtet agieren. Sehen Sie durch diese politischen Veränderungen gesellschaftliche Anpassung im Bereich der Familie?
Die neue Rechte versucht europaweit in einem gut organisierten Netzwerk, kirchlich-christliche Gruppierungen für politische Zwecke zu instrumentalisieren: Hier wird dann die Notwendigkeit des Kampfes gegen Gender beschworen, Homosexualität verdammt und alle neuen Familienformen in Bausch und Bogen als „nicht christlich“ abgelehnt. In Italien und Ungarn beispielsweise sind die Angehörigen der rechten Parteien bereits erfolgreich. Ihr politisches Ziel ist die Schwächung von Demokratien, insbesondere ihrer Pluralität und Diversität in Fragen privater Lebensführung. Auch in den USA und in Russland geht die Taktik bereit auf. Frauenrechte und Rechte von sexuellen Minderheiten werden nachweislich derzeit wieder beschnitten – häufig im Namen eines „wahren Christentums“. Die großen christlichen Kirchen distanzieren sich von dieser Vereinnahmung, und das ist auch richtig so. Es gilt aktuell sehr wachsam zu sein. In Niederösterreich hatte die FPÖ beispielsweise zu Weihnachten flächendeckend ein Plakat lanciert, das hinter dem Slogan „Unser Fest – unsere Werte“ die Heilige Familie (Maria, Josef, das Jesuskind) gezeigt hat. Ausgerechnet Weihnachten, das Fest der Menschwerdung Christi für alle Menschen als Teil einer ausländerfeindlichen FPÖ-Kampagne zu instrumentalisieren, ist wirklich perfide und hat zu Recht massiven Protest hervorgerufen.
Welche gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen würden Sie sich für Familien wünschen?
Ich wünsche mir, dass wir die gesellschaftspolitische Verantwortung für den Schutzraum, welchen alle Familien brauchen, damit die oben genannten Werte gelebt werden können, nicht ausschließlich an die traditionelle Familienform knüpfen. Es wäre viel gewonnen, wenn Menschen in ihrer Bereitschaft, Verantwortung für gute und stabile Beziehungen zu übernehmen, rechtliche und moralische Anerkennung sowie institutionelle Unterstützung erfahren würden. Alle christlichen Kirchen wissen, wie entlastend Institutionen sein können. Ich wünsche mir daher, dass sie sich für alle Familien einsetzen, nicht nur für die eigene Klientel. Eine größere Pluralität von Partnerschafts- und Familienformen stellt in meinen Augen keine gesellschaftspolitische Gefahr, sondern eine Chance dar – eben im Hinblick auf die notwendigen genannten typischen Familienwerte, deren Realisierung dann auch unsere Gesellschaften verändern kann.